Ein Gastbeitrag von Dr. Doris Tillmann
Durch die irritierende Vielfalt der globalisierten Lebensmittelwelt steigt das Bedürfnis nach regionaler Bindung, nach einer regionalen Esskultur, die in der Geschichte und Tradition einer Landschaft oder Stadt verankert und fester Bestandteil der lokalen Identität ist. Welche Traditionen finden sich in Kiel? Ein Beitrag von Doris Tillmann, Museumsdirektorin (Kieler Stadtmuseum, Schifffahrtsmuseum) und Leiterin des Kieler Stadtarchivs.
Die regionale Küche – ein Marketingkonstrukt
Essen und Trinken sind heute, da wir in der Fülle von Wohlstand und Überproduktion leben, ein beliebtes Trend-Thema, befeuert durch Lifestyle-Magazine oder Kochsendungen. Ob Mode-Diät, Bio-Kost oder vegane Ernährung: was und wie wir essen, gilt nicht mehr allein unserem körperlichen Sättigungsbedürfnis und dem kulinarischen Genuss, sondern ist auch Ausdruck unserer persönlichen Entscheidung und gilt als Statement eines individuellen Lebensstils. Nie waren Lebensmittel in Deutschland so preiswert wie heute, nie war das Angebot so reichhaltig und so vielseitig und die Freiheit des Marktes so umfassend. In dieser irritierenden Vielfalt der globalisierten Welt steigt zugleich das Bedürfnis nach regionaler Bindung, und es regt sich immer wieder der Wunsch nach einer regionalen Esskultur, die in der Geschichte und Tradition einer Landschaft oder Stadt verankert und die daher fester Bestandteil der lokalen Identität ist. Kindheitserinnerungen ranken sich gern um Lieblingsspeisen und Situationen rund um den Familienesstisch. Sie sind Teil des kulturellen Konstrukts »Heimat«, ebenso wie vertraute Orte oder Konventionen, mit denen wir aufgewachsen sind. Dass dem Heimischen bei der Ernährung eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird, das weiß auch die Werbung, und so hat ein schleswig-holsteinischer Marketingverbund den Markenbegriff »feinheimisch« kreiert und dabei das Qualitätsattribut »fein« angefügt. Die regionale Gebundenheit meint dabei weit mehr als nur die gute Ökobilanz durch kurze Transportwege. Das Regionale ist stets positiv konnotiert und verbunden mit Wertvorstellungen wie echt, ehrlich, unverfälscht durch fremde Einflüsse.
„Echt“ & „ehrlich“
Eine große in Kiel ansässige Lebensmittelvertriebskette, die auch eine regionale Produktpalette führt, nennt sich »Famila« und spielt damit auf die Familiengebundenheit der Ernährung an, also auf eben den Familientisch, der unser Zuhause-Gefühl ausmacht. Die Beispiele sind zahlreich: Die Idee regionaler, heimischer Ernährung findet sich im Gastronomieslogan »Futtern wie bei Muttern« ebenso wie im Landesimage vom »echten Norden«. Hohe Wertschätzung wird auch der vermeintlichen historischen Originalität entgegengebracht, nicht selten ist die Herkunftsgeschichte eines Lebensmittels wichtig für das Markenimage: Naheliegendes Beispiel sind hier die Kieler Sprotten, die sich schon Kaiser Wilhelm II. regelmäßig aus seinem Reichskriegshafen liefern ließ und über deren Ursprung in Kiel oder Eckernförde seit einigen Jahren eine skurrile Diskussion entbrannt ist. Was jedoch macht die Regionalität der Ernährung aus? Ist es der Verbrauch heimischer Lebensmittel, deren Anbau oder Gedeihen vor Ort naturräumlich vorgegeben Städten vertrieben werden.
Schutz vor unangemessen Bedürfnissen
Die ärmeren sozialen Schichten insbesondere auf dem Land sollten vor vermeintlich unangemessenen Bedürfnissen und dem ausländischen Einfluss geschützt werden und weiterhin an ihren alten Nahrungsgewohnheiten festhalten. So war es wirtschaftspolitisch erwünscht, nicht nur für diese Kreise eine preiswerte »heimische Kost« zu propagieren. Der Begriff »heimisch« changiert dabei zwischen den Bezugspolen Nation und Familie als Keimzellen bürgerlicher Identität. Beide Ideale – Nation und Familie – verschmolzen im Zuge der patriotischen Bewegungen Mitte des Jahrhunderts miteinander, und die in der Küchenliteratur beschriebene hausfrauliche Familienarbeit wurde mit vaterländischem Gedankengut verbrämt. So findet sich im weit verbreiteten Kochbuch für »Die holsteinische Küche« der Wahlspruch: »Holstein’s Hausfrau fromm und bieder Holstein’s Küche nett und rein, Holsten-Treue, frohe Lieder; Schwesterchen, also soll es sein.«
Damit war allerdings nicht die Idee einer speziell holsteinischen Küche geboren, sondern es wurde lediglich das patriotische Bewusstsein der Hausfrau beschworen. Das Buch, das ebenso wie seine vielen Vorgänger aus anderen Landesteilen nur überregionale Rezepte beinhaltete, wurde bis zum Ersten Weltkrieg über dreißigmal aufgelegt. Kurz nach 1900 war dann tatsächlich auch eine Rezeptsammlung unter dem Titel »Kieler Kochbuch für den bürgerlichen Haushalt« erschienen. Aber auch dieses Buch, das sehr auf Sparsamkeit im bürgerlichen Haushalt abhebt, führt keine landschaftlich gebundenen Rezepte oder Zutaten auf. Der regionale Bezug im Buchtitel ist nicht mehr als nur ein Etikett.
“Heimisch“ soll es sein
Die faktische Modernisierung und Verstädterung Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erfahrung von Entfremdung bzw. Entwurzelung in breiten Bevölkerungsschichten ging einher mit einer mentalen Gegenbewegung, in der alles Landschaftsgebunden-Bodenständige eine ideelle Aufwertung erfuhr. Begriffe wie ländlich, heimisch, ursprünglich, unverfälscht wurden positiv belegt und fanden als Wertbegriffe Eingang in die Lebensmittelwerbung. Spätestens mit der Reichsgründung nahm die aufstrebende Lebensmittelindustrie die vermeintlich regionale Zuschreibung der Gerichte und Nahrungsmittel zu Werbezwecken auf. Die Herkunft der Produkte wurde zum Markenzeichen, dabei ging es nicht nur um Lebensmittel mit ländlich-bäuerlicher Herkunft, sondern auch um groß städtische Industrieerzeugnisse, etwa Frankfurter Würstchen ebenso wie Kieler Sprotten.
Dieses Marketing funktionierte besonders gut bei Produkten mit weit räumigem Vertrieb, konnte man doch auf die Werbewirksamkeit bekannter Städte setzen. Auch die berühmten Kieler Sprotten wurden eher selten an der Förde gegessen, sondern nach Berlin und in andere Großstädte exportiert, wo sie als maritime Delikatessen aus dem Reichskriegshafen beliebt waren. Die herkunftsbezogene Warenwerbung prägte nun ihrerseits sehr nachhaltig bestimmte Landesklischees. Die Idee einer typisch regionalen Ernährungsweise ist noch heute vor allem ein Marketingkonstrukt und ein Werbeversprechen, das sich inzwischen auch im Tourismus gut verwerten lässt. Aber selbst wenn sich eine typische regional ausgeprägte Küche als Legende und werbewirksame Imagekampagne entlarven lässt, so sind die regionalspezifischen Aspekte der Ernährungsgeschichte dennoch hochinteressant und diesbezügliche lokale bzw. stadtgeschichtliche Untersuchungen sehr lohnenswert: Die Lokalgeschichte bietet durch eine räumliche Eingrenzung die Möglichkeit, die komplexen Faktoren und Zusammenhänge der Ernährungsgeschichte in der vertikalen Zusammenschau chronologisch zu ordnen und abzubilden. Der städtische Mikrokosmos des historischen Alltagslebens, in dem sich zugleich Wertvorstellungen und Zeitgeist spiegeln, zeigt sehr konkret und exemplarisch allgemeingültige
Entwicklungen bis hin zur global organisierten Ernährungswirtschaft. Die kleinräumige Betrachtung ermöglicht außerdem einen interessanten Wechsel der Perspektiven zwischen Lebensmittelerzeugern und Verbrauchern bzw. Verbraucherinnen und damit zwischen betriebs- und volkswirtschaftlichen und privaten Belangen. Kiel als extrem schnell wachsende Stadt ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich Lebensmittelversorgung und Ernährung unter verschiedenen äußeren Einflüssen in den letzten 200 Jahren verändert haben; etliche Entwicklungen sind hier generalisierbar für großstädtische Prozesse, andere wiederum sind singulär und aus verschiedenen Gründen sehr spezifisch für die Stadt an der Förde.
(Auszug aus dem Buch: „Kiel kocht. Lebensmittelversorgung, Ernährung und Esskultur im 19. Und 20. Jahrhundert.)