Krabbelnde Hoffnungsträger: Mehlwürmer stoppen Raubbau an Meeresumwelt

9. November 2024

Ein Beitrag von Wolfgang Heumer

© WFB / Jörg Sarbach

Es klingt unglaublich: Zuchtfische erhalten in Aquakulturen häufig Futter, für dessen Herstellung wild lebender Fisch gefangen wird. Um diesen Raubbau einzuschränken, arbeiten Fachleute der Hochschule Bremerhaven an einer Alternative. Mehlwürmer sollen den Proteinbedarf von Forellen, Lachs und Co. decken.

Wenn es ums Essen geht, sind die Bewohner des Container-großen Labors nicht zimperlich. Obst und Gemüse, Treber aus der Bierbrauerei, Speiseabfälle – nichts ist vor ihnen sicher: „Wenn man sie lässt, würden sie sogar Plastiktabletts anknabbern“, weiß Lisa Klusmann. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Lebensmitteltechnologie an der Hochschule Bremerhaven spricht über Mehlwürmer, die in einem guten Dutzend Regale voller Edelstahlwannen heranwachsen. 

Aufgrund ihres großen Appetits sind die etwa einen Zentimeter langen Insekten in den Fokus der Wissenschaft geraten. „Sie können die Basis für eine ökologisch und ökonomisch sinnvolle Alternative zu Fischmehl sein, das zum Beispiel in der Forellenzucht als Futter eingesetzt wird“, erläutert Rainer Benning, Professor für Lebensmitteltechnologie. Ob und wie Mehlwürmer tatsächlich als Proteinquelle genutzt werden können, ist Thema des Forschungsprojekts „LokaLaStern“ der Hochschule Bremerhaven und weiterer Partner, das Lisa Klusmann koordiniert. 

Fischmehl in Futterpellets für Forellen und Lachse

Angesichts schwindender natürlicher Ressourcen in den Ozeanen gewinnt gezüchteter Fisch aus Aquakulturen stetig an Bedeutung für die Proteinversorgung der Menschen auf allen Kontinenten. Sowohl in Teichanlagen an Land zum Beispiel für die Forellenzucht als auch bei der Aufzucht von Lachs im Meer werden die Tiere über Futterpellets mit dem für ihr Wachstum notwendigen Eiweiß versorgt. „Ein wesentlicher Bestandteil ist Fischmehl“, sagt Rainer Benning. Über dessen Herkunft werden Verbraucherinnen und Verbraucher meist im Unklaren gelassen. „Leider handelt es sich in der Regel nicht um gemahlene Reste aus der Lebensmittelproduktion, sondern um eigens für die Futtermittelherstellung gefangenen Fisch“, erläutert der Fachmann. 

© WFB / Jörg Sarbach

30 Millionen Tonnen Fisch jährlich aus Gammelfischerei

„Gammelfischerei“ nennt man den Fischfang zur Herstellung von Fischmehl und -öl, aus der sich Deutschland bereits in den 1970er-Jahren verabschiedet hat. Denn die Tiere fehlen in der Nahrungskette anderer Fische und der Seevögel. Das Problem hat gigantische Ausmaße: Nach Schätzungen der Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste e.V. und des Informationszentrums der deutschen Fischwirtschaft werden in der Gammelfischerei jährlich rund 30 Millionen Tonnen Fisch an Land gezogen – das ist etwa ein Drittel des gesamten weltweiten Fischfangs.

Einsatz von Mehlwürmern schont die Umwelt und senkt die Kosten

Anstelle des Fischmehls Soja zu verwenden, ändere nichts an den Folgen für die Umwelt. „Für die Sojaproduktion werden die Regenwälder abgeholzt“, sagt Benning. Dass dagegen Mehlwürmer ein interessanter Ersatz sein können, ist den Fachleuten am Institut Lebensmitteltechnologie und Bioverfahrenstechnik an der Hochschule Bremerhaven schon seit längerem bekannt. „In vorherigen Forschungsprojekten haben wir demonstriert, dass auf dieser Basis zum Beispiel Futter für die Hühner- und Schweinemast hergestellt werden kann“, berichtet Professor Benning. Der Vorteil besteht nicht nur darin, dass die wertvollen Ressourcen im Meer oder der Amazonas-Regenwald geschont werden: „Mehlwürmer können auch in der Nähe der Zuchtanlagen aufgezogen und zu Futter verarbeitet“, weiß Benning. Diese Regionalität senke die Kosten, die beim Einsatz von Fisch- als auch von Sojamehl hingegen stetig steigen.

Allerdings ist es alles andere als trivial, aus den gefräßigen Lebewesen des Labor-Containers ein wert- und gehaltvolles Fischfutter zu entwickeln. In dem Forschungsprojekt befasst sich Lisa Klusmann mit der gesamten Abfolge von der Aufzucht der Mehlkäferlarven (so lautet die korrekte Bezeichnung für Mehlwürmer) bis zur Zusammensetzung des späteren Futters der Larven. In dem Container hat die Lebensmitteltechnologin die perfekten Rahmenbedingungen für die Aufzucht hergestellt: In dem kleinen Raum ist es bei einer Luftfeuchtigkeit von 28 Prozent 30 Grad Celsius warm. 

In den Regalen und Stahlschalen auf der einen Seite legen Mehlkäfer ihre befruchteten Eier ab, auf der anderen Seite wachsen daraus die Larven heran. Wie die viel zitierte Made im Speck leben die Würmer in einer dicken Schicht Weizenkleie. „Das ist offenbar ihre Lieblingsspeise“, hat die Wissenschaftlerin beobachtet. Doch auch bei Mehlwürmern zählen die inneren Werte: Um sie zum perfekten Futter zu machen, müssen sie bestimmte Aminosäuren und Fette aufnehmen. Die richtigen Zusatzstoffe und die richtige Kombination zu finden, ist Teil des Projekts.

© WFB / Jörg Sarbach

Renommierte Institute unterstützen das Forschungsvorhaben

Lisa Klusmann bekommt in dem mit Professor Benning entwickelten Forschungsvorhaben die Unterstützung renommierter Partner. Das Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) liefert wertvolle Beiträge zum Thema Fischzucht. Außerdem befassen sich die AWI-Forschenden mit der Aufzucht von Seesternen, die getrocknet und gemahlen einen wertvollen Beitrag zur Mehlwurm-Speise für Forellen leisten können. Dritter im Bunde des vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geförderten Projektes ist das IFF-Forschungsinstitut Futtermitteltechnik in Braunschweig. 

Die Ballung der Kompetenzen verdeutlicht die Komplexität des Projekts, das sich beispielhaft auf die Forellenzucht konzentriert. „Uns geht es nicht allein darum, wie Mehlwürmer als Fischfutter nutzbar sind“, betont Rainer Benning. Letztlich werde auch nach Wegen gesucht, die Kosten für die Fischzucht in Grenzen zu halten – derzeit steigen die Futterpreise rasant: „Unsere Antwort ist eine regionale Produktion, für die auch Zutaten aus Resten der Lebensmittelproduktion verwendet werden können“, so Benning. Zudem befasst sich das Vorhaben mit der Automatisierung der Futterproduktion.  Die Kosten für die Fischzucht zu senken, ist eine dringende Notwendigkeit: Ohne Aquakulturen wird sich der Proteinbedarf einer wachsenden Weltbevölkerung schon bald kaum noch decken lassen. Vor diesem Hintergrund entwickeln sich die gefräßigen Bewohner des Labor-Containers zu Hoffnungsträgern: „Wir stehen zwar erst am Anfang des Projekts“, sagt Lisa Klusmann: „Aber das Potenzial, das darin steckt, können wir jetzt schon erkennen.“