Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn vor mir: den „Schwipskuchen“ der Kieler Oma Thea. Ich sehe den von meiner Mutter wunderschön gedeckten Kaffeetisch der 50er Jahre mit dem stilvollen Goldrand-Geschirr, matte Knöpfe schmückten die Deckel der Kanne und der Zuckerdose, das Silber lag blank geputzt am Platz, zierlich gestickte Servietten passten perfekt zum Gedeck – und dann wurde der gut gekleideten, plaudernden Damenrunde nach dem großen Torten-Genuss die kleine Spezialität des Hauses gereicht. Ein ganz besonderer Biskuit, eigentlich ein viktorianischer Sponge cake, also der locker-luftige Rührkuchen der Briten. Mutters Schwipskuchen aber hatte es in sich. Auf dem kostbaren Kuchenteller deckte eine goldgelbe Creme über dicht gesteckten Mandelstiften das Geheimnis ab. Erst beim Anschnitt wurde klar: der Teig war getränkt mit „Schwips“. Ein sündhafter Geruch und Geschmack verwöhnte die Kuchenrunde. Genuss pur in einer Zeit, in der so Köstliches nicht selbstverständlich war. „Kleine Stücke schneiden“, sagte meine Mutter, besorgt um das Wohlbefinden ihrer Gäste und legte meist selbst Hand an. Und immer sagte sie dann „Prost Thea“. Meine Kieler Großmutter lebte nicht mehr, aber ihr Rezeptheft und der Kuchen hatten überlebt. Ich selbst durfte selbstverständlich nicht einmal naschen. Beim Backen des Biskuit rutschte der Finger schon mal in den Teig. Und es war auch meine Aufgabe, mit meinen kleinen Kinderfingern den Teig zu „igeln“, ihn also mit den Mandelstiften dicht an dicht zu spicken. Daran blieb dann später die Creme so schön hängen. Eine herrliche, abgerührte Vanillecreme, von der ich heimlich naschte. Aber bevor sie kurz vor dem Servieren sehr kalt über den Kuchen gegossen wurde, musste der igelige Teig ja noch über Nacht beschwipst werden. Rum und Portwein und Läuterzucker wurden dafür gemischt und über- und angegossen. Vollgesogen wie ein Schwamm stand der Kuchen dann da.
Eines Tages, versteht sich, gab es dann auch bei mir am Ende der Kaffeetafel diese norddeutsche Variante einer Baba au rhum. Scheibchenweise, denn was zu Oma Theas Zeiten kein Problem war, muss die Hausfrau ja heute wohl bedenken: die Damen kommen nicht mehr zu Fuß herbei – Schwipskuchen in großer Menge geht ins Blut.