Barbara Maier

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Hamburger Originale – Zitronenjette

26. Januar 2024
© Staatsarchiv Hamburg

Ein Leben am Rande der Gesellschaft

Ein Hamburger Original, ganz typisch für ihre Zeit und doch einzigartig: die Zitronenjette. Ende des 19. Jahrhunderts hörte man von ihr in Hamburg täglich den Ruf: „Zitroon, Zitroon, frische Zitroon“! Die kleinwüchsige „Zitronenjette“ zieht als fliegende Händlerin durch die Straßen St. Paulis um ihre von Matrosen am Hafen erworbenen Zitronen feilzubieten.

Von 1854 bis 1894 zog die sehr junge und sehr kleine Henriette Johanne Marie Müller Tag und Nacht durch Hamburg und verdiente sich mit dem Verkauf von Zitronen ein bisschen Geld zum Überleben. Dadurch, dass sie eine der ersten Zitronenhändlerin war, wurde sie schnell in der ganzen Stadt bekannt, denn der Handel mit den sauren Zitrusfrüchten war Anfang des 19. Jahrhunderts noch etwas Besonderes. Zitrusfrüchte galten als Zeichen des Wohlstandes und waren im Allgemeinen sehr teuer. Henriette Müller kaufte am Morgen im Hafen von den Matrosen die billigeren, oft schon leicht angefaulten Zitronen ein und verkaufte diese dann später für 5 Pfennig das Stück auf der Straße weiter. So kannte sie dann bald jeder nur noch unter dem Spitznamen „Zitronenjette“.

Doch auch ihr Äußeres war nicht alltäglich. Mit ihren knapp 130 Zentimetern Körpergröße, der kräftigen Statur und der knolligen Nase in dem rundlichem Gesicht fiel sie auf. Dazu der für damalige Verhältnisse zu kurze nur knielange Rock mit einer alten blauen Schürze darüber– so war sie schon eine etwas sonderbare Erscheinung. 

Mit ihrer Erscheinung fällt sie nicht nur auf, sondern sie wird damit auch zur Zielscheibe von Spott und Häme. Vor allem die Kinder laufen ihr hinterher und belegen sie mit allerlei Schimpfnamen. Ein Schicksal, das sie mit Hamburgs zweiter Kultfigur teilt: Hans Hummel.

Zudem schämte sich das Mädchen seiner Herkunft. Als uneheliches Kind am 18. Juli 1841 in Dessau geboren kam sie erst wenige Monate alt mit ihrer Mutter nach Hamburg. Schon mit dreizehn Jahre trug sie mit dem Handel von Zitronen zu dem Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter bei.

Nachts verkauft sie ihre Zitronen in den Spelunken in der Neustadt und rund um die Reeperbahn. Viele Kneipengäste machten sich dort einen Spaß daraus die Zitronenjette mit Schnaps abzufüllen und sich dann über sie lustig zu machen. Auch die Tatsache, dass sie kaum rechnen kann, nutzen ihre Kunden aus – und hauen sie nicht selten übers Ohr.

Mit 53 Jahren ist die Straßenhändlerin schließlich schwer alkoholkrank und wird 1894 von der Polizei völlig betrunken auf der Straße aufgelesen. Sie wird entmündigt und mit der Diagnose „Trunkenheit“ und „Schwachsinn“ in die „Irrenanstalt Friedrichsberg“ in Barmbek eingewiesen. Dort wird sie in der Küche beschäftigt, wo sie Kartoffeln schält und Gemüse putzt. Zwar wurde sie nicht als geisteskrank behandelt, verbrachte dort aber die nächsten 22 Jahre bis zu ihrem Tod 1916. Mit 75 Jahren erreichte sie ein für damalige Zeiten und Umständen ein beachtliches Alter.

Henriette Müller gilt als ein Hamburger Original, doch genau wie beim Hummel, steht bei der Zitronenjette die Originalität nicht für Erfolg, sondern für ein tristes Außenseiterdasein. Durch die Verbindung von Unehelichkeit, Armut und Kleinwüchsigkeit in einer Person war die Zitronenjette an den Rand der Gesellschaft verbannt.

© Tim Heisler

Im Jahr 1986 wurde ihr zu Gedenken ein Denkmal in Nähe des Michels und der Krameramtsstuben aufgestellt. Geschaffen wurde es von dem Bildhauer Hansjörg Wagner. Auf der Gedenktafel steht auf Plattdeutsch: „Dien Leben wer suur as de Zitroonen, sall sick dat Erinnern an di lohnen? Dien Schiksol wiest op all de Lüüd, for de dat Glück het gor keen Tiet“. Auf Hochdeutsch heißt das: Dein Leben war sauer wie die Zitronen, soll sich das Erinnern an dich lohnen? Dein Schicksal erinnert an all die Leute, für die das Glück gar keine Zeit hat.

Bereits 1900, noch zu Zitronenjettes Lebzeiten, wurde ein nach ihr benanntes Schauspiel im St. Pauli Theater aufgeführt. Zwanzig Jahre später folgte ein weiteres Volksstück, in dem das Straßenleben Hamburgs zu Zeiten der tingelnden Verkäuferin humoristisch nachgezeichnet wurde. 1940 gedachte ein feinfühligeres Theaterstück Zitronenjettes Leiden. Für den beliebten Hamburger Schauspieler Henry Vahls war die Zitronenjette ein Erfolg, – und seine letzte Paraderolle – die er von 1973 bis 1975 rund zweihundert Mal verkörperte.

Die Zitronenjette im Ohnsorg-Theater

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