Gisela Reiners

Journalistin

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Feine Küche im Lagerhaus

Besuch bei Thomas Imbusch im 100/200 Kitchen
16. August 2019

Wanderer, kommst Du nach Rothenburgsort, verlier nicht den Mut! Denn trotz hubbeliger Straße, Verkehrslärm von den Elbbrücken, auf rummeligen Plätzen abgestellter LKW, Container wie Wohnwagen – Dein Tisch im neuen Restaurant mit dem komplizierten Namen „100/200 Kitchen“ wartet auf Dich.

Foto: 100/200 Kitchen

Buchen wie beim Pop-Konzert

Muss er auch, denn Du hast schon 119 Euro bezahlt für ein „Ticket“, damit Du im ersten Stock eines ehemaligen Lagerhauses am Brandshofer Deich 68 Platz nehmen darfst. Wenn Dir was dazwischenkommt, hast Du Pech gehabt. Patron Thomas Imbusch hat schließlich eingekauft, um Dir ein feines Mahl zu bereiten. Und wie soll er seinen Lieferanten erklären, dass Du nicht kommst, weil jemand verunglückt ist oder Du ins Krankenhaus musstest? Er will damit dem von allen Gastronomen der besseren Ess-Klasse gefürchteten Nichterscheinen vorbeugen, kennt aber das Wort Kulanz. Also: Nicht Freunde einladen, in drei Restaurants reservieren und am Abend erst entscheiden, worauf man denn nun Lust hat. Wird teuer! Ältere Gourmets kennen das: Sie sind damals in die verlassene Düsternis am Harburger Hafen gepilgert, um sich von Michael Wollenberg im „Marinas“ bekochen zu lassen. Oder zu Christian Rachs „Tafelhaus“ neben drei Friedhöfen in Bahrenfeld. Dagegen ist diese Lage hier geradezu hübsch: Aus den großen Fenstern des grauschwarzen Raumes mit Küchenblock in der Mitte fällt der Blick auf das Wasser von Billhafen und Oberhafenkanal, die Elbbrücken links, die Elbbrücken mit Eisenbahn rechts – und im Hintergrund die Hafenkräne im Sonnenuntergang samt Elphi und Michel. „Wenn die HafenCity wächst, liegen wir bald am Rand der Innenstadt“, sagt Imbusch, der sich hier einen „Traum erfüllt“ hat.

Eigensinniger kreativer Geschichtenerzähler

Der 30-Jährige ist eigensinnig – im Wortsinn. Der Lehrerssohn aus Friesoythe im Oldenburger Münsterland hat im Bremer Parkhotel gelernt, bei Drei-Sterne-Koch Christian Bau gearbeitet und vier Jahre lang bei Tim Mälzer im „Off Club“ an der Leverkusenstraße geguckt, wie man sein Restaurant und seine Arbeit vermarktet. Er kocht vorzüglich, hat zu jedem Gang etwas zu erzählen und fordert den Gast mit seinen Kreationen aus Zutaten, die manchmal nicht zu passen scheinen, am Ende sich aber vereinen zu einem angenehmen Gesamterlebnis. Auster und Kimchi (fermentierter Kohl, selbst gemacht) – leuchtet nicht ein, schmeckt aber. Brühe von Hühnerfüßen mit kandierten japanischen Algen – ebenso. Die Mischung aus Kaffeemacaron mit Kartoffel und Kakao – sehr gewagt, ob gelungen muss jeder selbst entscheiden. Die Bachforelle, begleitet von Grapefruit, Haselnuss, Schnecken, sehr großen grünen Erbsen und noch so mancherlei wirkt überfrachtet. Das glückliche Huhn aus der Lüneburger Heide ist im Ofen gegart, kommt nur mit Sauce rouennaise (mit Blut gebunden), wirkt schlicht, schmeckt gut, bekommt den Kick durch ein frisch gebackenes, sensationelles Sauerteigbrot mit köstlicher Kruste, mit dem man die Soße auftunken kann/soll. Löblich ist, dass danach sozusagen als Teil II des Geflügelgangs ein Ragout aus den Innereien serviert wird. So kommen auch die weniger edlen Teile zur Verwertung. Kleine Stückchen, ergänzt durch eingelegte Wachsbohnen, werden von einer hellen Sahnesoße umspült. Die Teile sind sehr zart, allerdings etwas geschmacksarm, ebenso die Soße.

Foto: 100/200 Kitchen

Man muss sich einlassen

Es folgt ein Dessert aus Himbeeren, Litschi und Rose – köstlich, frisch und leicht. Es ist die Vorbereitung auf eine Brioche, die es in sich hat, nämlich sehr viel Butter! Zimt kitzelt sacht den Gaumen, der hoch erfreut ist, während der Magen etwas in die Tiefe sackt. Schließlich gibt es noch Sahne mit einem Kompott der selten gewordenen Reineclauden, einer Edelpflaume, und ein Löffelchen einer traumhaften Ganache, einer Creme aus Sahne und Schokolade, begleitet von Financiers, kleinen Mandelküchlein, Klassiker der französischen Patisserie. Alles ist sehr aufwendig hergestellt, sowohl was die Arbeit als auch die Zutaten betrifft. Man glaube nicht, dass es eine Speisenkarte gibt. Das Menu bekommt man beim Abschied, gedruckt auf schweres Papier, verschlossen mit einem Siegel „100/200“. (Die Zahlen beziehen sich auf den Siedepunkt von Wasser und eine Gradzahl des Herdes.) Ändern kann man nichts, es gibt keine Ausweichgerichte, nur das Menü. Unverträglichkeiten sollten vorher gemeldet werden. Das klingt alles etwas autoritär, ist es wohl auch. Man muss sich einlassen auf die Küche, den Koch, das Konzept, die Mitarbeiter, die alle sehr auskunftsfreudig sind und erläutern, was sich Thomas Imbusch bei diesem und jenem gedacht hat. Wer dazu bereit ist, wird nicht enttäuscht. Wer es nicht will, muss sich was anderes suchen.

Foto: 100/200 Kitchen
Foto: 100/200 Kitchen

100/200 Kitchen

Brandshofer Deich 68

20539 Hamburg

E-Mail: mail@100200.kitchen

Informationen und Buchung unter www.100200.kitchen