Story der Woche – Familienerbe: Liebe zum Meer

Auf den Spuren des berühmten Großvaters Walter Riml
23. September 2023

Ein Beitrag von Annica Müllenberg

Aushangfoto Film S.O.S. Iceberg, Grönland
Aushangfoto Film S.O.S. Iceberg, Grönland Credit: Foto Universal Production, Archiv WaRis-Tiroler-Filmarchiv

Den Gefahren versunkener Munition auf den (Meeres)grund gehen – das ist das Ziel des Projekts „North Sea Wrecks“ unter der Leitung des Deutschen Schifffahrtsmuseums (DSM) / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte. An Bord der HEINCKE, eines Forschungsschiffs des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), nahmen die Forschenden im April 2021 Kurs auf das Seegebiet westlich von Helgoland. Für die DSM-Mitarbeiterin Cornelia Riml, die die Expedition filmisch und fotografisch für eine Ausstellung begleitete, war es ein ganz besonderes Erlebnis, da es Schlaglichter in ihre Familiengeschichte warf. Ihr Großvater Walter Riml – berühmter österreichischer Kameramann und Experte für Berg- und Schneeaufnahmen – kämpfte sich 1935 durch Grönland, um Ergänzungsaufnahmen für den Alfred Wegener-Gedenkfilm „Das große Eis“ zu drehen. Rund 90 Jahre später steht seine Enkelin an Bord eines AWI-Schiffes, die Kamera im Anschlag – wenn Geschichte nachhallt, Forschung, Film und Familie verschmelzen.


Kein Lebensraum für Menschen

Stahl knarzt, Tischbeine scharren, in den Schränken poltert hörbar alles, was nicht fixiert ist – sechs Meter hohe Wellen lassen nichts und niemanden kalt. Selbst die HEINCKE, ein 55 Meter langes Schwergewicht, tanzt auf den Wasserbergen hin und her, die gnadenlos von vorn und achtern anrollen. In Cornelia Rimls Kopf ist nur Platz für Ehrfurcht und Demut – die Urgewalt des Wassers erscheint faszinierend und fremd zugleich. Seit Kindertagen fühlt sich die heute 32-Jährige von Schiffen und Wasser angezogen, doch sie spürt auch: Das Meer ist kein Lebensraum für Menschen. Der erste klare Gedanke, den sie wieder fassen kann in ihrer Kajüte, gilt der Kamera: Liegt sie wirklich sicher verstaut im Koffer? Die DSM-Mitarbeiterin ist Teil der Wissenschaftscrew des NSW-Projekts. Im Seegebiet westlich von Helgoland werden Proben vom Weltkriegswrack SMS MAINZ genommen. Das internationale Team will wissen, ob von der Munition Gefahren für Mensch, Meer und Tier ausgehen. Allein auf dem Grund der deutschen Gewässer in der Nordsee vermuten Expert:innen rund 1,3 Millionen Tonnen Munition, die

Cornelia Riml
Cornelia Riml – Foto: DSM / Annica Müllenberg

Schadstoffe absorbieren können. Auf der Forschungsfahrt suchen die Wissenschaftler:innen Belege für mögliche Auswirkungen. Riml ist buchstäblich überall dabei: Sie hält in Video und Bild fest, wie das Beiboot der Forschungstaucher:innen ins Wasser abgelassen wird, Wasser-, Sediment- und biologische Proben genommen und Muscheln ausgesetzt werden. Kein leichter Job: Die Filmerin muss auf allen Decks gleichzeitig sein und diverse Perspektiven des Geschehens einfangen. Die Zeit ist knapp und Abläufe sind nicht wiederholbar. „NSW ist ein internationales Pionierprojekt, in dem Grundlagenarbeit für den Meeres- und Umweltschutz in der Nordsee geleistet wird. Das ist sehr reizvoll für mich, weil ich viel einbringen kann, was mir liegt“, sagt Riml. Sie beschreibt sich als visuellen Kopf, der in Perspektiven denkt. Doch auch das Forscher-Gen schlummert in ihr.


Kamera stets im Anschlag

Die Kamera hat sie stets im Anschlag, den Finger auf dem Auslöser. Zwischen Stress, Sturm und Bilderflut verschafft sich auch Rimls Vorfahre Oberwasser. Die Sehnsucht nach Meer und Schiffen mag für eine Tirolerin ungewöhnlich anmuten. Für die Enkelin des Kameramanns, der 1935 Ergänzungsaufnahmen für den Alfred Wegener-Gedenkfilm „Das große Eis“ drehte, ein unbewusster Schritt auf dem Traditionspfad. Walter Riml arbeitete mit den Polarforschern Ernst Sorge und Fritz Loewe zusammen und bewies sein Können als Bergfilmspezialist unter anderem im James Bond-Streifen „Im Geheimdienst Ihrer Majestät“. Inmitten der Schaumkronen der Nordsee erkennt die gebürtige Innsbruckerin plötzlich Parallelen. 1932 verschlug es Walter Riml zum ersten Mal nach Grönland. Für den Film „SOS Eisberg“ stand der 2,05 Meter „lange“ Tiroler in Fellanzug und mit Walfett eingeschmiert als Schauspieler vor der Kamera. Während des damaligen siebenmonatigen Aufenthalts in Grönland barg Riml sogar die Signalflagge Alfred Wegeners aus dem Eis. 1935 zog es ihn erneut ins Nordland, dieses Mal hinter die Kamera. Walter Riml schrieb Geschichte in doppelter Hinsicht: Er brach zur ersten Zwei-Mann-Expedition nach Grönland auf, um weitere Aufnahmen für den Film „Das große Eis“ zu drehen. Auf dem rund fünf Kilometer langen Filmmaterial waren Gletscherkalbungen, die Lebensweise der Indigenen und nicht gekannte Naturaufnahmen verewigt. Die Gletscher-Sequenzen sind heute wichtige Zeugnisse für die Wissenschaft, zeigen sie doch die Eisflächen der 30er Jahre, als diese noch nicht so rasant zurückzogen waren wie heute. Der Vergleich macht den Klimawandel schmerzhaft deutlich.


Kameramann, Zimmermann, kreativer Kopf

Als kreativer Kopf und gelernter Zimmermann baute Riml Konstruktionen, die später Forschenden bei der Entnahme von Proben dienlich wurden. Interdisziplinäres Arbeiten würde man das heute nennen. Knapp 90 Jahre später folgt seine Enkelin ihrer Liebe zum Meer, zieht in den Norden, studiert an der

Universität Bremen im Master Public History, beginnt für das NSW-Projekt im DSM zu arbeiten und steht für die Dokumentation an Bord des AWI-Schiffes HEINCKE ebenfalls hinter der Kamera. Im Falle von Rimls Familiengeschichte verschwimmen die Grenzen von Film und Forschung – und eine Brücke vom AWI zum DSM entsteht.

Walter Riml an seiner Debrie-Kamera
Walter Riml an seiner Debrie-Kamera Copyright: Dr. Christian Riml, WaRis-Tiroler Filmarchiv

„Natürlich kannte ich die Vergangenheit meines Großvaters – meine Eltern gründeten auf Basis seines Nachlasses das WaRis – Tiroler Filmarchiv samt kleinem Film-Museum. Mein Großvater starb aber, als ich noch ein kleines Kind war. Daher erfahre ich vieles über sein Leben erst jetzt neu und lerne ihn auf eine andere Art und Weise kennen – es eröffnen sich neue Verbindungen und Perspektiven für mich und das ist besonders wertvoll.“ Der Public-History-Studentin wird klar, wie bestimmend das Interesse am Medium Film, der Forschung, dem Entdecken und an einer präsenten Vergangenheit in ihrer Familie ist. „Für mich ist Geschichte eine Brücke, die aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft führt.“ Sie wird die Tradition fortsetzen und weiterhin auf dem Weg des Geschichte(n)-Erzählens bleiben, denn das liegt ihr besonders am Herzen. „In der Public History arbeiten wir mit neuen Ansätzen und Ideen. In meiner Masterarbeit erarbeite ich anhand des NSW-Projektes ein Vermittlungskonzept für Kinder. Denn Geschichte lebt und wirkt immer generationenübergreifend und die Zukunft ist besonders wichtig.“ Zukünftig trifft man die baldige Master-Absolventin häufiger im AWI-Archiv an. Riml taucht noch tiefer in das Leben ihres Großvaters ein und sucht Verschmelzungen von Film, Forschung und Familie. Sie wurde bereits fündig – die Spurensuche ist noch nicht beendet. Eine Fortsetzung der Forschungsausfahrt gibt es ebenfalls: Die NSW-Crew sticht bald wieder in See, das steht schon in ihrem Kalender: „Ende September, zum Geburtstag meines Großvaters.“ Wenn das kein Zufall ist.


Über das Deutsche Schifffahrtsmuseum – Leibniz-Institut für Maritime Geschichte

Die wechselvolle Beziehung zwischen Mensch und Meer zu erforschen und in Ausstellungen erlebbar zu machen – das hat sich das Deutsche Schifffahrtsmuseum (DSM) / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte in Bremerhaven zur Aufgabe gemacht. Es ist eines von acht Leibniz-Forschungsmuseen in Deutschland. Mit seinen rund 100 Mitarbeitenden und Auszubildenden und circa 8000 Quadratmetern überdachter Ausstellungsfläche zählt es zu den größten maritimen Museen Europas. Zurzeit befindet sich das DSM im Wandel und verbindet eine Gebäudesanierung mit einer umfassenden Neukonzeption aller Ausstellungs- und Forschungsbereiche.

Museumswebseite

Prinz Philip zu Besuch beim DSM

Aushangfoto Walter Riml
Aushangfoto Walter Riml SOS Eisberg, Grönland.
Credit: Fotograf: vermutlich Vogel-Sandau, Archiv WaRis-Tiroler-Filmarchiv