Jens Mecklenburg

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Essen & Politik

Macht, Größe und Demokratie zeigt sich am Esstisch
4. Oktober 2023

„Die Küche einer Gesellschaft ist eine Sprache,
in der sie unbewusst ihre Struktur zum Ausdruck bringt.“

Claude Lévi-Strauss, „Der Ursprung der Tischsitten“


Beim Essen geht es nur vordergründig darum, satt zu werden. Friedrich Nietzsche betrachtete den Akt des Essens als Offenbarung über Kulturen. Und nicht erst seit Hildegard von Bingens „Physica“ aß und isst der Mensch Bedeutung. Die Vorstellung, mit jedem verzehrten Kaninchen stiege die eigene Sehkraft, jede einverleibte Antilope oder jeder verspeiste Feind stärke die eigene Schnelligkeit und Kraft, reicht bis in die früheste Vorzeit. Es gibt auf der Welt kaum ein gemeinschaftsbildendes Ritual, zu dem nicht gegessen und getrunken wird: von der Taufe bis zum Leichenschmaus, vom Abendmahl bis zum Staatsbankett.

Champagner und Trüffel fehlten bei den Feierlichkeiten zum 40-jährigen Bestehens des Elysée-Vertrags – aus gutem Grund und nicht ohne Folgen.


Appetit schafft Zivilisation


Essen und Trinken hält nicht nur Leib und Seele zusammen. Appetit schafft auch Zivilisation. Essen ist zumindest in unseren Breiten mehr als ein biologisch notwendiger Akt. Essen ist immer auch ein gesellschaftliches Ritual und somit ein Politikum. So ist auch ein Staatsmenü die Fortsetzung der Politik mit kulinarischen Mitteln.


Wer erinnert sich noch an die Feierlichkeiten zum 40-jährigen Bestehens des Elysée-Vertrages? Der Deutsche Bundestag bestand auf ein einfaches Menü. Bloß keinen Champagner und keine Trüffel. Die deutschen Abgeordneten hatten schlicht Angst vor der öffentlichen Meinung. Die Franzosen klagten: „Die Deutschen können einfach nicht feiern.“ So wurde die deutsch-französische Freundschaft im Vorwege der Feierlichkeiten kulinarisch arg strapaziert.

Curry war den Hanseaten aus Lübeck schon im 15. und 16. Jahrhundert ein beliebtes Gewürz


Bankett für Rom


Die äußerst aufwendigen Bankette, die von Fürstenhöfen aller Zeiten und Länder überliefert sind, hatten zunächst einmal die Funktion zu repräsentieren, Macht und Größe eines Staates und des Herrschers zu feiern. Ob römische Kaiserzeit, arabische Hoffeste, Indien oder europäisches Mittelalter: Von allen Fürstenhöfen sind besonders verschwenderische Festessen überliefert. Kurz nach dem Ende der Republik aßen Cäsar und Augustus selbst noch ziemlich bescheiden; Cäsar trank kaum Wein, Augustus aß kaum Fleisch, lebte hauptsächlich von Brot, Käse und Feigen. Aber in ihren Staatsbanketten entfalteten sie offizielle Pracht. So gab Cäsar zur Feier seiner Machtübernahme in Rom ein zwei Tage dauerndes Bankett, bei dem er 250.000 Bürger bewirtete – fast die ganze Stadt.


Auch die Festessen auf den norddeutschen Gutshöfen konnten durchaus zu repräsentativen „Fressorgien“ ausarten. Die vornehmen Hanseaten in Lübeck, durch den Handel der Hanse kulinarisch erfahren, bevorzugten schon recht früh die feinere Art der Nahrungsaufnahme. Die Zubereitung von Krebssuppe, Curryhuhn und Stubenküken gehörte dort zum Standardrepertoire der Köchin. Ein frühes Zeugnis feiner Lebensart lieferten die Lübecker Ratsherren 1502. In dem Jahr wurden die angesammelten Bußgelder der Stadt für ein Essen der besonderen Art verwendet. Während im Hinterland Fleisch nur begrenzt und zu besonderen Anlässen gegessen wurde, die Hauptnahrung aus Grütze bestand, speisten die ersten Lübecker Herren zum Mittag Rinderbraten, Schinken, Wild, Lamm, Schwan, Pfau. Dazu gab es feines Backwerk, Butter, Käse, Obst, Konfekt und Nüsse aus Italien, Bier aus Hamburg und Einbeck, Wein vom Rhein und aus Frankreich.


Sollen sie doch Kuchen essen


Marie-Antoinette war die letzte Königin Frankreichs und fand ihr Ende auf dem Schafott. Das ihr zugeschriebene Zitat „Wenn sie [die Armen] kein Brot haben, sollen sie Kuchen essen“ (Brioche war gemeint) stammt allerdings nicht von Marie Antoinette. Es wurde ihr in den Mund gelegt, passte es doch zu gut zu ihrem sonstigen Auftreten. Das Volk hungerte, die Mächtigen gaben sich dem dekadenten Luxusleben hin. Die Folgen – die Französische Revolution – sind bekannt. Bis heute profitieren wir davon. Bedurfte es in Europa doch erst der Französischen Revolution, damit sich so etwas wie eine Restaurantkultur entwickeln konnte. Bis etwa 1760 waren die gastronomischen Angebote streng reglementiert. Ein Bratkoch durfte nicht einfach ein Ragout machen. Heute unvorstellbar: Wirtshäuser mussten sich das Essen erst von Garköchen, Fleischern und Pastetenbäckern holen.


Restaurants im modernen Sinne kamen erst um die Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert auf, als die Pariser Nationalversammlung die Innungen abschaffte, den Zünften ihre Privilegien nahm und den neuen Restaurants erlaubte, Gerichte nach Belieben anzubieten. Köche, die bis dato für den Adel gekocht hatten, machten sich nun selbstständig und avancierten zu erfolgreichen, gastronomischen Unternehmern, während ihre ehemaligen Arbeitgeber auf dem Schafott landeten, emigrierten oder verarmten. Es war die Geburtsstunde der modernen Gastronomie. Auf einmal wurden Suppen, Zwischengerichte, Braten und Desserts in ein und demselben Restaurant angeboten. Restaurants mit guter Küche und berühmten Köchen entstanden.

Der Eintopf war nicht nur eine deftige Mahlzeit, sondern auch Politikum


Das (Kriegs)Geheimnis des Eintopfs


Kaum eine andere deutsche Speise und Zubereitungsart ist kulinarisch, politisch und militärisch so vermint wie ein Eintopf. Mit der Erfindung der Erbswurst wurde im Deutsch-französischen Krieg der Eintopf zur Militärverpflegung schlechthin. Kein Krieg mehr ohne Eintopf. Im Ersten Weltkrieg kam dann die Gulaschkanone zum Einsatz. Und es waren die Nazis, die Gerichten, die in einem Topf zubereitet werden, den Namen Eintopf gaben. 1933 führten sie den „Eintopfsonntag“ ein. Alle Bürger waren aufgefordert, an einem Sonntag im Monat das übliche Fleischgericht durch einen Eintopf zu ersetzen und das so eingesparte Geld dem Winterhilfswerk zu spenden. Die Popularisierung des Eintopfs in der NS-Zeit baute allerdings auf bürgerliche Vorstellungen des 19. Jahrhunderts auf, die die deutsche „Hausmannskost“ als Gegensatz zur angeblich überfeinerten Französischen Küche ansah, die angeblich dem deutschen Wesen fremd sei. Im deutschen Eintopf sollten soziale Unterschiede zugunsten der nationalen Gemeinsamkeit aufgehoben werden. Vielleicht stand deshalb die Mehrheit der Deutschen nach 1945 noch lange Zeit dem verfeinerten Essen misstrauisch bis ablehnend gegenüber.



Schlaraffenland


In der DDR wurde jedes Staatsmenü von Erich Honecker persönlich abgesegnet, sozusagen politisch „abgeschmeckt“, die Überlegenheit des Sozialismus sollte sich auch beim Staatsbankett widerspiegeln. Dabei war die Versorgungslage der Bevölkerung stets Ärgernis wie Politikum. Hatte man den Bürgern doch ein östliches Schlaraffenland versprochen. Die Realität sah allerdings anders aus.


Eine in der DDR immer wieder gern erzählte Geschichte ging so: Ein Bürger fragte im Gesundheitsministerium an, welche Gemüsesorten er für eine gesunde Lebensweise bevorzugen solle. Die Antwort ließ lange auf sich warten, doch sie kam. „Ihre Frage ist nicht einfach zu beantworten. Im vergangenen Jahr beispielsweise war Porree sehr bekömmlich. In diesem Jahr sollten Sie Rotkohl bevorzugen. Für das Nächste Jahr haben wir die Forschung noch nicht abgeschlossen. Von Spargel raten wir generell ab.“

Erich Honecker Und Helmut Schmidt. © Bundesarchiv/ Wikimedia Commons


Demokraten essen bescheiden


Heute üben sich die Mächtigen im Staat in demokratischer Bescheidenheit. Beim offiziellen Staatsbankett des Bundespräsidenten wird meist ein Vier-Gang-Menü gereicht. Es ist in der Regel anständig und orientiert sich eher an gehobener bürgerlicher Küche als am Niveau der Sternegastronomie. Mit Sterneköchen umgibt man sich in Staatskreisen im Gegensatz zu Frankreich ungern. Auch in der Bundesrepublik ist das Speisen von Politikerinnen und Politikern mehr als eine Frage des individuellen Geschmacks. Wenn ein Politiker in Zeiten von BSE öffentlich ein Rumpsteak verspeist oder sich ein Spitzenpolitiker gar als Fan von Hummer und Kaviar outet, wird von der Öffentlichkeit wahrgenommen und kommentiert. Die wenigen mir bekannten Feinschmecker unter den Politikern, verstecken ihre Gelüste lieber vor den Wählern. Lukullische Ausschweifungen gelten in Deutschland bis heute als anrüchig. Der Gourmet-Papst Wolfram Siebeck war gar der Ansicht, dass man in Deutschland eher einen Schäferhund vor laufenden Kameras totschlagen kann als zuzugeben, dass man gerne Austern isst.


Dabei waren Rechte und Linke sich zumindest an der Ernährungsfront immer einig: Genuss ist des Teufels. Den Rechten galt die Verfeinerung von Speisen als undeutsch, „welsch“, man überließ sie den Franzosen; den Linken galt gutes Essen als dekadent. Noch bis heute fliegen gelegentlich Pflastersteine und Farbbeutel auf „Edel-Restaurants“. Beide Seiten verbindet das lustfeindliche protestantische Erbe.

Allzu dekadente Essgewohnheiten der Spitzenpolitiker drohen dem ein oder anderen Wähler sauer aufzustoßen.


Genuss, der Feind der Revolution


Der große Dramatiker Berthold Brecht macht in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ klar, warum die meisten Revolutionen scheitern mussten:

„Ich hab mich oft gewundert, warum die linken Schriftsteller zum Aufhetzen nicht saftige Beschreibungen von den Genüssen anfertigen, die man hat, wenn man hat. Ich seh immer nur Handbücher, mit denen man sich über die Philosophie und die Moral informieren kann, die man in den besseren Kreisen hat, warum keine Handbücher übers Fressen und die anderen Annehmlichkeiten, die man unten nicht kennt, als ob man unten nur den Kant nicht kenne!“

Berthold Brecht


Von Brecht stammt auch die Weisheit: „Jedenfalls stimmen wir ein darüber, daß Genußsucht eine der größten Tugenden ist. Wo sie es schwer hat oder gar verlässtert wird, ist etwas faul.“


Der Mensch füllt sich nicht einfach den Magen, er isst Sinn und Bedeutung. Darum stimmt der vielzitierte Satz des französischen Schriftstellers Brillat-Savarin: „Sage mir, was du isst, und ich will dir sagen, was du bist.“ Er ging sogar noch weiter: „Das Geschick der Nation hängt von ihrer Nahrung ab.“ Wer sich für die Zukunft von Gesellschaft interessiert, sollte vor allem auf die Teller der Politiker und der Mitmenschen schauen. Und wer in Zukunft eine erfolgreiche Revolution anzetteln möchte, sollte Hummer und Champagner für alle fordern. Macht deutlich mehr Lust auf Abenteuer als Erbseneintopf.

Ein Podcast über die Geschichte der Gastronomie

US-Präsident Donald Trump und seine Frau Melania auf einem Staatsdinner mit dem Präsidenten Frankreichs. © Joyce N. Boghosian/ The White House/ Wikimedia Commons